Tag 15 – das Geheimnis der Phantomstraße

von Lappeasuando nach Abborrträsk (AirBnB)

gefahrene Kilometer: 371

Roadtime: 6,5 Stunden

Temperatur: -6 über 0 zu -2 Grad

getankt: 46l

1x Pipipause, 1x Pipi mit Drohnenflug, 1x Kunst, 1x Polarkreis, 2 x tanken, 1x Scheibenreinigungspause, 1x Supermarkt

Reparaturen: der Dauerbrenner: Vergaser

Schäden am Auto: gerissene Frontscheibe

Leider haben die Muskelprotze unserer Hoffnung von gestern Abend, mit einer Tüte Schlaf und dem Licht des neuen Tages Entscheidungen für Leid und Tod vieler zu revidieren, nicht entsprochen. Mittlerweile scheint die Ukraine in einen Besatzungsstatus zu fallen, zivile Opfer sind zu beklagen. Das Monster Krieg schlägt mit all seiner Hässlichkeit mitten im Winter ins Gesicht noch freier Menschen. Und Russland erweitert sein Bedrohungspotential auch gegen Finnland und Schweden. Es scheint, als stünden uns dunkle Zeiten ins Haus und all das lässt uns nicht mehr los. Den Tag über checken wir immer wieder die Nachrichten, versuchen auf dem Stand zu bleiben und unsere Gefühle in Einklang zu bringen. Denn es fühlt sich bedrohlich an. Auf einmal stehen die Militärtransporte mit schwerem Kriegsgerät, die wir sowohl in Schweden als auch in Norwegen gesehen haben, in einem anderen Licht da. Und auf einmal fühlt sich unsere Sicherheit und unsere Freiheit fragil und gefährdet an.

Der Tag startet für Matthias mit einem Spurt durch die morgendliche Kälte, um den Motorvorwärmer und den Innenraumheizlüfter anzuschmeißen. Der Landstrom hing schon die ganze Nacht am Auto, die Batterien also an den Ladegeräten, aber für die beiden Wärmeelemente muß ja immer einmal Knöpfchen gedrückt werden. Das ist okay – auch wenn es in der Situation nervig ist. Was auch ein bisschen nervig ist: im Vorfeld hatten wir uns bezüglich dieser ganzen Motorvorwärmer-Geschichte etwas belesen und zwei Punkte herausgefiltert. Der eine Punkt ist, daß es für das Auto deutlich angenehmer ist, bei arktischen Temperaturen vorgewärmt gestartet zu werden. Ist offensichtlich, wir hatten auch damit gerechnet, das der 145 bei zweistelligen Minustemperaturen deutlich widerwilliger anspringt, als er es dann tatsächlich getan hat. Der andere Punkt war, dass in zahlreichen Blogs und Informationen zu Skandinavien stand, dass eigentlich alle Hotels und Unterkünfte, ja sogar Supermarktparkplätze Steckdosen bereithalten. Dem ist mitnichten so. Wir konnten bis dato in ganzen 5 Unterkünften das Auto an den Landstromtropf hängen. Alle anderen hatten keine Möglichkeit dafür auch nur vorgesehen. Und die Unterkunft heute Abend will 5 € dafür haben (Spoiler: machen wir nicht). Unter’m Strich ist das Teil also super sinnvoll – ist aber kaum zum Einsatz gekommen. Die hohen Anschaffungskosten sowie der aufwendige Einbau sprechen im Nachhinein gegen das Teil. Einziges Plus auf lange Sicht: beim Campen wird uns das in Zukunft mit Strom versorgen, ist auf jeden Fall deutlich sicherer als das durch einen Fensterschlitz verlegte Verlängerungskabel der Vergangenheit.

Die Lappeasuando Lodge ist eine großartige Unterkunft. Gestern Abend haben wir noch die Sauna genutzt, obwohl der Saunaraum sehr großzügig ist, wird er immer nur für eine Gruppe reserviert, wir waren also für uns. Was uns auch ganz recht war. Das Zimmer ist sehr schlicht und einfach, aber völlig ausreichend, die Betten bequem und das Abendessen sehr lecker. On top kommen superfreundliche und hilfsbereite Angestellte und ein sehr lockerer und einfacher Umgang. Das Frühstück fühlt sich ein wenig komisch an: es ist zum einen sehr voll (was an der begrenzten Frühstückszeit 8 bis 9 Uhr liegt) und zum anderen scheint man sich hier schon länger zu kennen, was zu Gesprächen quer durch den Raum führt. Da sowohl Gäste als auch Personal deutsch sprechen, ist selektives Hören deutlich schwieriger. Die Auswahl ist ganz okay, auf Nachfrage gab es zumindest glutenfreies Brot. Beim Frühstück ist auch ein Team des Winter Baltic Sea Circles. Sie fahren irgendeinen ziemlich neuen Doppelkabiner-PickUp (Nissan?) mit Wohnkabine hinten drauf und haben die Nacht wohl auf einem der Stellplätze der Lodge verbracht. An einem Gespräch waren sie aber nicht interessiert. Komisches Volk.

Bei strahlendem Sonnenschein hängen wir uns auf die E10 die hier auch die E45 ist. Und der E45 werden wir ab jetzt für 1546km bis Göteborg folgen. Es stehen also wieder Transittage an. Kurz vor Gällivare trennen sich E10 und E45. Während die E10 Richtung Luleå fährt, wendet sich die E45 in südwestlicher Richtung dem schwedischen Hinterland zu. Fast wie eine Trennlinie halbiert sie Schweden der Länge nach. Die Abzweigung verpassen wir völlig im flow geradeaus zu fahren natürlich erstmal. Als für die Navigation Zuständige hat Katrin diese Unachtsamkeit ihres Steuermannes natürlich sofort bemerkt und dank kompaktem Wendekreis und völliger Menschen- und Autoleere kann der Fehler durch eine schnelle Vorkopfwende auf der Straße behoben werden. Die Bergbaustadt Gällivare sieht sehr nach Zweckstadt aus, ein starker Kontrast zu den Postkartenmotiven des schwedischen Hinterlands. Gleiches haben wir ja gestern auch in Kiruna erlebt. Hinter Gällivare fahren wir mit strahlender Sonne im Gesicht durch dick schneebepuderten Wälder, durch die hohen Temperaturen um 0 Grad und böigen Wind werfen die Bäume immer wieder ihren Schnee ab. So fahren wir nicht nur durch funkelnde und glitzernde Landschaft, immer wieder ist auch die Luft von Diamantstaub erfüllt. Ein bisschen Märchenstimmung kommt auf. Die Idee, die E45 mal zu roadtrippen, verwerfen wir heute jedoch recht schnell, mindestens dieser nördliche Teil schreit trotz der Glitzerfunkelwelt jetzt nicht gerade nach spannenden Abenteuern auf der Straße – dafür ist es links und rechts deutlich zu leer. Denn außer Wäldern sehen wir fast nichts.

Immer wieder hängen an den Straßenrändern schwarze Mülltüten. Diese begleiteten uns in Schweden bereits auf der Hinfahrt. Die Sami hängen sie nicht etwa als einen Appell seinen Müll nicht einfach fallen zu lassen auf, sondern um Zuggebiete ihrer Rentiere zu markieren und Autofahrer:innen so zu warnen. Schilder lohnen sich nicht wirklich, die Tiere neigen dazu, sich nicht an diese zu halten. Und schwarze Mülltüten sind deutlich schneller aufgehangen, als ein Schild aufgestellt ist.

Während wir so durch die Sonne fahren, fällt uns auf, dass wir einen Riss in der Frontscheibe haben. Auf der linken Seite, direkt an der A-Säule. Beim Abstellen des Autos war der gestern noch nicht da. Ein Steinschlag durch ein vorausfahrendes Auto kann heute mangels vorausfahrender Autos auch nicht die Ursache sein. Als wir morgens zum Auto kamen waren im Schnee auf der Motorhaube und den Kotflügeln Spuren, die aussahen, als hätte sich dort jemand beim vorbeigehen abgestützt. Ob in diesem Zuge auch ein Abstützen auf unserer Scheibe passiert ist, können wir nicht sagen, der Verdacht liegt aber nah. Sauärgerlich sowas. Bringt aber auch nix, sich jetzt den Kopf darüber zu zerbrechen. Die Scheibe ist aus Sicherheitsglas (ist sie doch, oder?!), sie wird also nicht in Scherben auf uns herab regnen. Lediglich weiter reißen kann sie. Was sie auch tut, wir können über den Tag dabei quasi zugucken. Sie müsste also getauscht werden, die Wahrscheinlichkeit, dass ein Autoglaser eine auf Lager hat, ist relativ gering. Noch geringer ist die Wahrscheinlichkeit hier einen Autoglaser zu finden. Wir hoffen einfach, dass die Scheibe bis nach Hause hält, ein großer Zulieferer hat Ersatz auf jeden Fall im Programm. Da kommt es uns jetzt entgegen, dass die Fahrbahn mittlerweile fast vollständig eis- und schneefrei ist. Sicherlich gibt es immer noch Stellen, die dicht mit Schnee und Eis überzogen sind – vor allem an Einmündungen, Kreisverkehren oder dort, wo sich Schneeverwehungen bilden, aber 90 % der Straße sind heute frei. Dadurch weniger unruhig zu fahren, weniger Vibrationen im Auto und somit weniger Last auf der Scheibe.

Bei Jokkmokk halten wir am Wasserkraftwerk. Dieses wurde von Lars Pirak sowohl auf den Wänden des Gebäudes als auch auf und über den Fluttoren großflächig bemalt. Lars Pirak (27.07.1932 – 02.10.2008) war ein Lule-Sami und sehr bekannter Künstler, Jojkare und Meister der Duodji-Kunst. Jojkare sind Sänger:innen einer sehr speziellen traditionellen samischen Musikart. Diese versucht durch Gesang und von wenigen meist rhythmischen Instrumenten begleitet, Geräusche der Natur nachzuahmen und künstlerisch umzusetzen. Ein bisschen ist das vergleichbar mit Stammesgesängen amerikanischer Natives sowie schamanischen Gesängen aus Sibirien. Duodji-Kunst ist ebenfalls traditionelle Sami-Kunst, die künstlerische Alltagsgegenstände herstellt. Es geht darum, Gebrauchsgegenstände zu Kunst zu machen und ihnen gleichzeitig ihren Alltagsnutzen nicht zu nehmen. Ganz im Gegenteil, Duodji ist explizit für die Nutzung vorgesehen. Bekannt sind zum Beispiel samische Holzbecher, bereits durch ihre Form besonders und häufig mit Tiermotiven und ähnlichem verziert. Piraks bekanntestes Werk sind die Saltripan, kleine Gewürzschalen in der Form eines Alpenschneehuhns bei denen das Servierlöffelchen gleichzeitig das Schwanzgefieder ist. Die Kunstfakultät der Universität Umeå verlieh Pirak 2003 in Anerkennung seiner Werke einen Ehrendoktortitel. Leider ist der Aussichtspunkt auf das Gesamtwerk am Wasserkraftwerk durch hüfthohen Schnee versperrt, wir kämpfen uns so weit es geht durch und müssen aber mit einem Blick durch die Bäume vorlieb nehmen. Die Gemälde am Kraftwerksgebäude selbst können wir aus direkter Nähe betrachten.

Kurz hinter Jokkmokk überqueren wir den Polarkreis und merken das erst 16 Kilometer später. Per Zufall, weil Katrin versucht herauszufinden, was es denn wohl mit dieser Phantomstraße auf sich hat, die uns, seit wir auf der E45 fahren, begleitet. Unmittelbar neben der E45, manchmal kreuzend, ist auf der GoogleMaps-Karte eine zweite Strasse zu sehen. Wir können aber von der E45 aus nicht wirklich etwas entdecken. Dort wo sich beide Wege kreuzen, ist mal lichter Wald, mal eine Freifläche, mal junger Baumbestand. Wenn man in die Satelittenansicht wechselt, kann man ein ganzes Netz solcher Wege kreuz und quer durch Schwedens Hinterland und Wälder entdecken, viele Kilometer lang und wie mit dem Lineal gezogen. Fast hätten wir eine Telefonlawine gestartet, um der Sache auf den Grund zu gehen, kommen dann aber selber auf die Lösung. Schweden ist durch anhaltende Trockenperioden und gleichzeitig große Nadelwälder sehr stark waldbrandgefährdet. Sollten Waldbrände in Schweden außer Kontrolle geraten, bekommt man dies kaum noch eingefangen. So auch 2018 als die Schweden in Ermangelung ausreichender Löschflugzeuge die Waldbrände bombadiert haben, um durch die Explosionen den Waldbränden den Sauerstoff zu entziehen und sie dadurch zu löschen. Hat sogar geklappt, so verrückt das klingt. Die quer durch das Land verlaufenden „Wege“ sind nichts anderes als Brandschneisen, die die Wälder in einzelne Cluster einteilen, in der Hoffnung, so effektiver das Brandgeschehen einzudämmen und ein unkontrolliertes Überspringen auf andere Cluster zu verhindern. Das es sowas gibt, wussten wir, dass es solche Dimensionen haben kann, beeindruckt uns. Warum GoogleMaps diese Schneisen im Navigationsmodus, und nur da, als Wege anzeigt – keine Ahnung.

Also, wir haben den Polarkreis verpasst und das Rätsel der Phantomstraße gelöst. Wir fragen kurz unseren Bauch, ob wir mit diesem Ergebnis leben können und wenden zum zweiten Mal an diesem Tag auf der Landstraße. 16 km zurück, um das Ausreisefoto aus dem Polarkreis zu machen. Damit ist es auch irgendwie amtlich: wir sind wieder im Süden. Und damit auch irgendwie schon auf dem Rückweg, auch wenn das eigentliche Highlight und der Anlass dieser Tour ja noch bevorstehen.

Hinter dem Polarkreis beginnt der Großraum Arvidsjaur. Dieser ist geprägt durch mehrere große und unzählige kleine Seen. Der in der letzten Eiszeit hier über das Land rutschende Gletscher hat tiefe Risse in die Oberfläche gefurcht. Außerdem bietet diese Gegend den ganzen Winter über relativ stabile Umgebungstemperaturen, schnelle Erreichbarkeit der Niedrigtemperaturgebiete in Norwegen und Finnland und viele Eisflächen auf den Seen. Ideale Bedingungen für Autohersteller, Reifenproduzenten und andere Zulieferer, um ihr Material und ihre Entwicklungen hier zu testen. Entsprechend ausgebucht sind die Hotels in der ganzen Gegend, wir haben kein Zimmer mehr bekommen. Ein bisschen hofft Matthias ja darauf, den einen oder anderen Erlkönig zu entdecken, wir sehen aber leider nicht einen. Was wir allerdings sehen, ist ein alter Amazon. Der Fahrer ist mindestens so griesgrämig wie sein Auto alltagsgenutzt aussieht (im Verkaufssprech: glaubwürdige Patina) und es kommt, obwohl wir zusammen an der Tanke sind, zu keinem Kontakt.

Bei Arvidsjaur verlassen wir die E45 (keine Sorge, morgen geht es an gleicher Stelle weiter) und fahren über die 95 und die 373 Richtung Abborrträsk. Hier haben wir ein AirBnB bekommen, recht günstig. Straße und Umgebung wirken menschenleer, kurz kommen uns die Settings der Schweden-Krimis in den Kopf. Das AirBnB liegt gegenüber einer Citroen-Werkstatt, der Schlüssel steckt wie angekündigt nicht in der Tür. Der mürrische alte Mann im Haus nebenan kann oder will uns nicht verstehen, ein anderer Nachbar kann uns wenigstens die Telefonnummer vom Vermieter geben. Der kommt dann auch recht zügig und erzählt uns alles Wissenswerte über den mürrischen Nachbarn (lebt alleine in einem großen Haus im Wald ohne Strom und Wasser und hat seit Jahren die Hütte gemietet, um dort zu duschen und Wäsche zu waschen, hat ein Alkoholproblem), die Bushaltestelle (da steigen immer Kinder aus, dann ist eines von einem Mann mit Alkoholproblem überfahren worden, dann hat man die Verkehrsinseln gebaut damit niemand den anhaltenden Bus überholen kann und trotzdem ist dann einer betrunken vor den Poller geknallt) sowie den Besitzer eines Mopeds (den niemand im Dorf oder auf seiner Arbeit mochte und der dann voll wie ein Eimer in der weiten Links-Rechts-Kombi weiter hinten die Straße runter aus der Kurve geflogen ist und dabei starb). Wir erkennen eine Systematik, denken noch einmal an die Schweden-Krimis und werden unbedingt die Tür verriegeln!

Die Hütte selber ist sehr einfach eingerichtet, das Geschirr und das Besteck mal wieder überschaubar sauber. An den Wänden hängen große Drucke von Monstera Deliciosa und Gefäßsporenpflanzen, sogar die Tapeten haben floralen Druck. Zusätzlich steht die Hütte voll mit Gestecken und Sträußen – aus Plastik. Wir beschließen nach einem Tag fast vollständig auf Asphalt, von Spikereifen zurück auf die Winterreifen zu wechseln. Wir haben noch etwas Tageslicht und die nächsten Tage werden vor allem wieder aus Kilometer fressen bestehen, so dass wir dann wenig Zeit und noch weniger Lust für den Reifenwechsel haben werden. Wir gehen arbeitsteilig vor: Katrin ist fürs Ab- und Anschrauben der Räder zuständig, Matthias be- und entlädt diese. So haben wir in gut dreißig Minuten alle Reifen gewechselt, die Muttern einmal nachgeknackt. Nicht Formel-1-verdächtig, für einen komplett in Handarbeit ausgeführten Reifenwechsel aber schon ziemlich gut. Unser Tag endet mit Spaghetti Bolognese und einer Neuorganisation unserer Gepäckunterbringung. Und mit einer abgeschlossenen Tür.

1 Kommentar

  1. oh man, was´n Mist, mit der Scheibe –
    unsere Daumen sind gedrückt, das Kälte, Wasser, Frost & Co.
    nicht dafür sorgen, dass viele kleine Scherben über bleiben….

    Kommt gut und heil weiter, es bleibt schließlich noch spannend,
    bis ans Ziel, Liebe Grüße übrigens auch von Guido, gegen euren Hundeentzug.

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