Xenoglossie

Pfingsten. 49 Tage nach dem Ostersonntag. Für die meisten nur ein langes Wochenende im Frühsommer. Einer dieser Restbestandteile christlichen Lebens in unseren Breitengraden. Innerhalb der christlichen Glaubensgemeinschaft ist der Anlass dieses langen Wochenendes allerdings nicht ganz unerheblich: als die Apostel und Jünger zum jüdischen Schawuot-Fest zusammenkamen fuhr in sie der Heilige Geist. Über ihren Köpfen schwebten Feuerzungen und sie predigten die Lehren Christi und egal welche Sprache die Zuhörenden sprachen, die Predigenden sprachen sie. Xenoglossie. Manche hielten die Predigenden für rappelvoll oder irre, andere waren schwer beeindruckt. In der christlichen Tradition wird dieser Moment als die Gründung der Kirche verstanden.

Pfingsten ist – man könnte hier Parallelen sowohl in Bezug auf die Außenwahrnehmung „rappelvoll oder irre“ als auch die Zusammenkunft von Menschen mit unterschiedlichen Sprachen und doch dem gleichen Inhalt sehen – aber auch das Wochenende des Wave Gotik Treffens in Leipzig. Die seit 1992 stattfindende Veranstaltung der alternativen und schwarzen Szene ist zusammen mit dem M‘era Luna in Hildesheim eines der größten Festivals seiner Art.

Die Schnittmenge aus WGT-Besucher:innen und Leichenwagenfahrer:innen ist relativ hoch, so dass 2015 Nico und Don auf die Idee kamen, eine gemeinsame Automobile Klammer zu setzen. Mit drei Autos startete das, was heute als der „Leichentreff am Südfriedhof“ bekannt ist. Über die Jahre wuchs die Veranstaltung langsam, wir fuhren 2017 das erste mal dorthin. Nicht zum WGT, einzig für den Leichentreff. 2017 war auch das Jahr, in dem Nico das erste Mal eine Demo mit einer Auftaktkundgebung am Leipziger Hauptbahnhof, Fahrzeugaufzug zum Südfriedhof und dortiger Abschlußkundgebung anmeldete. Kernanliegen der Demonstration war der Erhalt zeremonieller Bestattungswagen als Bestandteil von Sterbe- und Trauerkultur. Denn der als Leichenwagenfahrer nicht nur einmal gehörte Satz „Der letzte Wagen ist immer ein Kombi“ (der ja formal eigentlich bereits falsch ist, immerhin werden die meisten Bestattungswagen auf Limousinen aufgebaut, aber geschenkt) ist mittlerweile fast im Bereich Urban Legend anzusiedeln. Heutige Bestattungsfahrzeuge sind immer häufiger VW Busse, Sprinter und ähnliche Nutzfahrzeuge. Sicherlich aus Kostengründen, immerhin sind hier kaum bis keine Karosseriearbeiten notwendig, dank praktischer Transportraumeinsätze können mehrere Särge auf einmal transportiert werden und der Wagen nach Ablauf der Leasingzeit sogar wieder dem Gebrauchtwagenmarkt ohne die Anrüchigkeit des Todes zugeführt werden. Der Leichnam verkommt so zu Transportgut, die Überführung zur reinen Zweckmäßigkeit. Trauer, Abschied und Respekt vor dem/der Toten finden hier keinen Platz. Insofern passt es auch, dass die Anlieferung in der Trauerhalle meist durch den Hintereingang stattfindet. Kritik an dieser rein marktwirtschaftlichen Betrachtung der „Dienstleistung Beerdigung“ ist Anliegen der Demonstration. Sie ist eine eher stille und würdevolle Veranstaltung fern bekannter Demonstrationsstile. Keine Durchsagen, keine Flugblätter, keine Transparente, keine Trillerpfeifen und keine Huporgien. Die Würde der Fahrzeuge spricht für sich.

Und dann gibt es da noch ein bisschen mehr: Vor allem Auftakt-und Abschlußkundgebung sind auch ein Treffen der sehr überschaubaren, aber dadurch sehr feinen Leichenwagenfahrer:innen-Szene und irgendwie auch ein Autotreffen. Diese Mischung macht es so reizvoll.

Nach dem Leichentreff am Südfriedhoff 2018 hat sich Nico aus privaten Gründen aus der Organisation und Anmeldung zurück ziehen müssen. Damit diese Veranstaltung nicht verloren geht, hat sich Matthias angeboten, diese weiterhin zu organisieren. 2019 hat das gut geklappt, 2020 und 2021 fanden keine offiziell angemeldeten Leichentreffs am Südfriedhof aus bekannten Gründen statt. 2022 ging es dann aber wieder. Endlich. Die Rennleitung und Ordnungsbehörden waren einverstanden. Das WGT fand auch wieder statt. Lediglich die Friedhofsverwaltung stellte sich bei der Frage nach einer Ehrenrunde über den Südfriedhof quer. Der Schutz trauernder Menschen und die Ruhe der Toten sticht das Versammlungsrecht und mit Blick auf das Anliegen ist das auch richtig so.

Mal wieder wurde es bei uns knapp: Unser Volvo 145 Express hatte die Wintertour zwar weiträumig gut überstanden, einige Blessuren aber doch davon getragen. Nix wildes. Dachten wir. Zwei Schäden stellten sich jedoch als schwierig zu bewältigen dar: Das Kombiinstrument und die gerissene Windschutzscheibe.

Das Kombiinstrument hatte irgendwann entschieden, den Benzinstand und die Motortemperatur um geschätzte 25% reduziert anzuzeigen. Kein Weltuntergang, trotzdem nervig. Eine Reinigung aller Kontakte brachte keine Besserung, wir vertrauen momentan also auf die Funktion unseres Kühlsystems und tanken nach Tageskilometerstand und nicht nach Benzinuhr. Und haben ja zur Not 20 Liter im Kofferraum.

Die Scheibe war die größere Herausforderung. Damit alles flott geht, hatte Andreas von der Wagenwerkstatt in Köln bereits vorab eine neue Scheibe (mit Blaukeil wie die alte) bestellt, zum vereinbarten Termin sollte eigentlich alles schnell erledigt sein. Alte Scheibe raus, neue Scheibe rein. Nebenbei Öl und Kühlmittel wieder auf hiesige Temperaturen anpassen. Beim Ausschneiden der geklebten Scheibe ließ sich das Dichtungsgummi nicht retten, ein Neues sollte her. Und hier fing das Problem an: Dichtungsgummi für eine geklebte 145er-Scheibe? Gibt es nicht. Mit der Hilfe des Internets (hier ein riesiges Merci an die Menschen, die dabei geholfen haben!) fanden wir raus: Es gab wenige 140er mit ab Werk geklebter Scheibe, prinzipiell aus den letzten Modelljahren. Unserer gehört da nicht zu, unserer hatte wahrscheinlich eine mit Dichtungsgummi geklemmte Frontscheibe. Wie das damals halt so üblich war. Die bei uns eingeklebte Scheibe war wahrscheinlich eine Ersatzscheibe für einen 240er Volvo, da sie ohne Metallrahmen mit integrierter Dichtlippe war, wahrscheinlich auch noch das billigste Ersatzmodell. Die allgemeine und einheitliche Empfehlung: Besorgt Euch eine neue (ordentliche) 240er Scheibe mit Metallrahmen und integrierter Dichtlippe und klebt die ein, die geklemmten 140er-Scheiben sind alle latent undicht.

Jetzt hatten wir aber die 140er-Scheibe mit Extra-Glasschutz-Transport bereits bestellt und rumstehen. Nach etlichen „hin und her“-Überlegungen half uns der Autoglasspezi von Andreas mit einer universalen Dichtung am laufenden Meter. Diese passte Andreas der Scheibe an und konnte das alles anschließend verkleben. 3 Tage vorher waren wir startklar. Jedenfalls fast. Eine gründliche Reinigung und Politur war noch angesagt. Immerhin sollte der 145er ja schick aussehen.

Zum Glück hatten wir noch einen davon als Ersatz.

Bei bestem Wetter und wunderbarem Feiertagsverkehr fuhren wir am Freitag Richtung Osten. Bekannterweise sind wir gerne in unserem 145 unterwegs, gerne auch länger. Autobahnkilometer in Deutschland damit zu fressen, gehört aber nicht zu den bevorzugten Disziplinen. 80-110 km/h auf Landstraßen ist genau unser Ding, leider macht man so kaum Strecke, vor allem nicht in Deutschland. Wenn das Ziel also nicht der Weg, sondern das Ankommen ist, so ist die präferierte Straßenart eher kontraproduktiv. Also hängten wir uns mit 100-120 km/h auf die Autobahn, stauten uns über die A1 bis kurz vor Unna, wechselten auf die A44 Richtung Kassel, kämpften uns durch die Kasseler Berge über die A7, um dann gefühlte Ewigkeiten auf der A38 bis Halle/Saale abzuhängen. In der Heimatstadt von Katrin schlugen wir nach gut 10 Stunden Autofahrt bei einem guten Freund auf und ließen erstmal Füße und Seele baumeln – leckeres Abendessen inklusive.

Samstag dann der Tag des Leichentreffs am Südfriedhof. Das bedeutete früh aufstehen. Zumindest für Matthias, Katrin blieb wegen ihres 20-jährigen Klassentreffens in Halle. Auf der Hinfahrt hatte es geregnet, außerdem haben sich diverse Insekten für den Tod auf Windschutzscheibe und Kühlergrill entschieden. An einer nahen Tankstelle gab es Waschboxen, ein schnelles Abkärchern, einschäumen, abbrausen und trocken polieren sollte reichen. Über Landstraßen ging es in der langsam kraftentwickelnden Vormittagssonne nach Leipzig, kurz nach angemeldetem Start schlug Matthias dann auch am Hbf auf. Einige Autos waren bereits vor Ort. Dank des durch die Ordnungsbehörden eingerichteten und durch Abschlepper umgesetzten Parkverbots für „Normal“-Fahrzeuge war auf dem Kurzzeit-Parkplatz Kurt-Schumacher-Str Ecke Willy-Brandt-Platz ausreichend Raum für Bestattungswagen. Denn nicht alle sind klein und handlich. Unser 145 gehört in der illustren Runde seiner Kolleg:innen zu den ganz schmächtigen. Spätestens amerikanische Modelle bringen es auf über 6 m Länge und bis zu 1,90 m Breite.

Dank tatkräftiger Unterstützung von Don und Stocken als Ordner (DANKE!!!) konnten wir alle 30 Fahrzeuge gut unterbringen. Von Jahr zu Jahr lernen wir ein bisschen mehr, können das Ganze etwas reibungsloser gestalten. Ein bisschen Chaos und Unordnung gehört beim Leichentreff am Südfriedhof aber auch dazu. Der Vormittag bis zur Abfahrt ist schnell erzählt: Abhängen mit lange nicht gesehenes Menschen, schnacken, erste Eindrücke sammeln. Das Publikumsinteresse war ungebrochen hoch, eine Menge Neugieriger drückte sich um und durch die Autos, viele WGT-typisch gut ausstaffiert. Oftmals wirkte es etwas unklar, wer mehr Aufmerksamkeit bekam, die Autos oder die gut (ver-?) gekleideten Menschen.

Etwas früher als geplant – ursächlich hierfür waren mehrere andere im Stadtgebiet stattfindende Demonstrationen – starteten wir um 13:30 Uhr mit dem Demonstrationsaufzug. Vorher gab es noch eine kurze Ansprache durch Matthias, als Anmelder war es seine Aufgabe, die Versammlungsteilnehmenden auf die Auflagen und Vorgaben zur Teilnahme aufmerksam zu machen. Diesen Moment nutzten wir gemeinsam auch, um zwei seit dem letzten Leichentreff am Südfriedhof verstorbener Menschen, die sich als Teil der Leichenwagen-Community verstanden haben, zu gedenken. Stefan und Rocky – R.I.P.. Rockys Wagen führte den Konvoi dann auch als Hommage an.

Der Konvoi macht den Leichentreff am Südfriedhof zu etwas Besonderem. Vorneweg Polizeiautos, hinten dran Polizeiautos, links und rechts brausen immer wieder Polizeimotorräder zum Sperren der Kreuzungen vorbei. Die Aufzugstrecke hat sich bisher nicht geändert und ist gesäumt mit Schaulustigen. Insbesondere die Fahrt mitten durch das Leipziger Stadtfest hat es in sich. Zum einen ist es ein tolles Gefühl in einem Fahrzeugkonvoi durch eine neugierige Menschenmenge zu fahren, zum anderen respektieren immer mal wieder Ungeduldige die Idee des „geschlossenen Fahrzeugkonvois“ nicht und springen zwischen den Autos hindurch. Es ging aber alles gut und schlußendlich bogen wir in den Friedhofsweg ein, um im ebenfalls exklusiv für Leichenwagen gesperrten Gleisbereich die Fahrzeuge aufzureihen.

Auch hier flanierten haufenweise Interessierte – die Kombi aus Bestattungswagen und Friedhof ist für viele WGT-Besucher:innen natürlich doppelt attraktiv. Und hier schließt sich dann der Kreis wieder: Xenoglossie. Alles Leichenwagen, alle sprechen eine andere Sprache. Und alle verstehen es. Die Meisten zumindest. Und einige halten die Fahrer:innen sicher auch für rappelvoll und irre.

Es ist auf den Leichenwagentreffen immer wieder beeindruckend, was es für eine Vielfalt an Fahrzeugen, Umbauarten und Interpretationen gibt. Kulturkreise spielen hier eine große Rolle, wie Trauer gelebt wird. Aber nicht nur das Ausgangsmaterial „Bestattungswagen“ ist unterschiedlich. Auch die Spannweite der Motivation, einen Leichenwagen zu fahren, ist riesig. Praktischer Kombi, Sammlerstück, Stilikone. Ebenso die Art, diesen zu individualisieren. Von klassischen schwarzen Hochglanzlackierungen über mattschwarz bis hin zu aufwendigen Airbrushings. Gleiches galt für die Innenräume: pragmatische Nutzwerterhöhung ohne großen Bestattungsbezug, liebevoll eingerichtete Campingausstattungen, spukig gruselige Horrorkabinette bis hin zur ordentlichen Absinthbar im Auszugsarg. So verstrich der Tag mit Benzingesprächen, privatem Schnack und Fachsimpeln über die Besonderheiten, ein morbid wahrgenommenes Auto zu fahren. An dieser Stelle sei gesagt: Ganz viel Liebe für all die besonderen Menschen, die den Weg nach Leipzig auf sich nehmen (ob mit oder ohne WGT-Bändchen), die Liebe und Kraft in diese besonderen Autos stecken und den Leichentreff am Südfriedhof zu dem machen, was er ist: eines der liebsten Autotreffen, zu denen wir fahren. Danke!

Der Abend gehört dann wieder Halle und den Freunden dort, am Sonntag fahren wir mit Zwischenstopp bei Katrins Eltern wieder heim. Dank später Abfahrt fahren wir im Abendrot mit wenig Verkehr gen Westen und vermeiden so den am Folgetag wieder aufwallenden Feiertagsreiseverkehr.

3 Kommentare

  1. Ich laufe mittlerweile oft hinter Renault Trafic oder Ford Transit her – die sind aber immer moderat umgebaut, inklusive Seitenscheiben mit Palmenmotiv etc., leider nicht mit verlegtem Auspuff-Endrohr. Die verbaute Zierbeleuchtung ist sehenswert (wenn man’s mag)!
    Schwarz sind die wenigsten; viele sind silbergrau oder dunkelviolett.
    In St.Georges de Didonne war’s ein Mercedes E-Klasse, der mit den vier Augen.
    Tousch in Fénétrange hat einen Chrysler 300c. Der hat einige feine Schmankerl für die Träger und ist bestimmt beim Carossier umgeformt worden. Aber das Auto ist kapriziös: wenn es nicht in der Garage übernachtet, startet es morgens nicht.
    Allgemein beobachte ich aber, daß die Bestattungsunternehmen einen Wagen für den Friedhofsdienst haben, und einen oder zwei unauffällige „Lieferwagen“ für Überführungen. Erstere haben zu 98% Automaticgetriebe, die Überführungswagen sind Handschalter. Gestaltete Anhänger für Überführungen sind äußerst selten geworden.

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